Begleitung von Übergangs- und Wandlungsprozessen

Begleitung von Übergangs- und Wandlungsprozessen

Naturtherapeutisches Arbeiten – Sichtweisen und Methoden

von Rita Arzberger-Schmidtner und Wolfgang Schmidtner

 

Die therapeutische Begleitung von Übergangs- und Wandlungsprozessen, besonders bei entwicklungsbedingten, phasenspezifischen Lebensübergängen oder krisenhaften Lebensereignissen, ist eines der wichtigsten Felder, in denen das ‚Erlebensorientierte therapeutische Arbeiten in und mit der Natur‘ (Naturtherapie), wie es von Wernher P. Sachon an der ‚Schule für Naturtherapie‘ gelehrt wird, ihre Beiträge leisten kann. In den letzten Jahren haben wir viele Menschen begleitet, die sich in einem solchen Prozess befanden und möchten zwei naturtherapeutische Übergangsriten vorstellen, die wir für Menschen in Übergangskrisen entwickelt haben.

Zwei Lebensphasen stehen idealtypisch für zwei unterschiedliche Arten eines Übergangs: Das späte Jugendalter mit dem Übergang ins Erwachsenenleben einerseits und der Übergang in der Lebensmitte andererseits, an dessen Ende Rolle, Leistung und die Ausrichtung an Normen relativiert werden können. Idealtypisch deswegen, weil die für diese Lebensphasen charakteristischen Übergangsweisen keineswegs auf diese beiden beschränkt sind und, umgekehrt, auch in diesen beiden Phasen Übergänge mit der „Färbung“ der jeweils anderen anzutreffen sind. Zwei kurze Exkurse führen uns zum Thema:

Wir orientieren uns an der Entwicklungstheorie Robert Kegans (‚Die Entwicklungsstufen des Selbst‘).
Nach Kegans Vorstellung befindet sich der Mensch in einer lebenslangen Entwicklung, bei der mehr oder weniger lange Phasen der Konstanz (Gleichgewicht) sich mit Phasen häufig krisenhafter Bewegung im Sinne eines Übergangs abwechseln. In Phasen des Übergangs, ändert sich in erster Linie die Qualität der Abgrenzung zwischen sich selbst (dem Selbst eines Menschen) und dem, was als Umgebung (als Welt) wahrgenommen wird. Dabei wird der Teil der Welt zunehmend als größer und  unabhängiger gesehen und erlebt, der Teil des Selbst als kleiner und relativer. Der Mensch löst sich aus seinem gefühls- und wahrnehmungsmäßigen Eingebundensein, wie es für jede Entwicklungsstufe charakteristisch ist. Er erkennt das Provisorische dessen, was bisher als endgültig erschien. Das Selbst „ist“ nicht mehr länger die Erlebens- und Wahrnehmungsqualität der vorangegangenen Stufe, sondern es „hat“ deren Möglichkeiten, es verfügt über sie in einem weiter gewordenen Rahmen. Der Mensch kann dann über den Tellerrand der vorherigen Stufe hinaus sehen.
Der entscheidende Übergang im späten Jugendalter bzw. im frühen Erwachsenenalter ist in Kegans Modell der von der Stufe des von ihm so genannten zwischenmenschlichen Selbst auf die Stufe institutionellen Selbst, der Übergang in der Lebensmitte der von der Stufe des institutionellen auf die des überindividuellen Selbst.

Der Prozess über diese drei Entwicklungsstufen ist, stark verkürzt, folgendermaßen charakterisierbar:
Ausgangspunkt sind zwischenmenschliche, auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehungen zu anderen.  Bedürfnisse, Interessen und Wünsche können im Dienst dieser Beziehungen zurückgestellt werden (zwischenmenschliches Selbst). Auf dieser Grundlage entwickelt der Mensch die Fähigkeit, geregelte Beziehungen einzugehen, selbstreflexiv zu werden in Hinblick auf seine Rollen und Normen und schließlich gemäß einem Selbstkonzept zu leben. Er erlangt Identität in und trotz der Widersprüchlichkeit der äußeren Welt (institutionelles Selbst). Diese Basis ermöglicht es ihm schließlich, diese Widersprüchlichkeit als ein Gewebe von zu ihm selbst gehörenden Systemen wahrzunehmen. Das Selbst ist nun fähig, die haltgebenden äußeren Rollen und Normen zugunsten einer inneren Organisation zu relativieren (überindividuelles Selbst).

Wir achten im Erleben der Menschen, mit denen wir arbeiten, auf Qualitäten, die auf den Übergang zwischen den Stufen hinweisen, unterstützen und verstärken durch unsere Rückmeldungen diesen Prozess.

Wir verwenden den so genannten „Kreis des Selbst“ als Wahrnehmungshilfe, den wir bereits in einem früheren Artikel (e&l, 11. Jhrg., Juli 2003) ausführlicher dargestellt haben. In dieser Vorstellung wird das Leben insgesamt ebenso wie einzelne Lebensabschnitte als ein vier Stationen umfassender Kreislauf gesehen. In dieser Sicht wird den vier Himmelsrichtungen und ebenso den vier Jahreszeiten jeweils ein ganzer Komplex menschlichen Erlebens zugeordnet:

Süden / Sommer: Kindheit, Vertrauen, Spiel, Affekte und Emotionen;
Westen /Herbst: Jugend und frühes Erwachsenenalter,  Wandel, Introspektion, Gefühl;
Norden / Winter: Reifes Erwachsenenalter, Arbeit und Dasein für andere, Vernunft;
Osten / Frühling: Tod / Geburt, Erkennen und Spiritualität, Fähigkeit zum Loslassen;

Unsere Vorstellung, wenn wir mit diesem Modell arbeiten, ist vereinfacht folgende: wenn es um Reifung mit dem Schwerpunkt „ins Leben hinein“ geht, ob in der Jugendzeit oder in anderen Lebensabschnitten, geht die Reise immer von einem Leben in Unschuld (Süden) durch eine dunkle und oft schwierige Phase (Westen) in ein verantwortungsvolles Leben (Norden). Der Übergang im späten Jugendalter stellt sich also in diesem Sinne als ein Süd/Nord-Übergang durch den Westen dar. Glückende Übergänge dieser Art sind oft vom Gefühl der Herausforderung begleitet, getragen vom Zutrauen der empfangenden Gemeinschaft.
Wenn es um Zuversicht und Sinnfinden auf und nach dem (oder einem) Lebenshöhepunkt geht - und auch hier ist dieser Wandel nicht nur auf die Lebensphase, in der das Altern fühlbar wird, beschränkt - führt der Weg von einem Leben in Arbeit und Verantwortung (Norden) durch eine Phase des sich Relativierens und Loslassens (Osten) in eine Phase neuen Vertrauens wie in der Kindheit (Süden) in Kräfte des Ursprungs. Solche Übergänge stellen sich also in diesem Sinne als ein Nord/Süd-Übergang durch den Osten dar. Glückende Übergänge dieser Art sind meist vom Auffinden tief empfundenen Friedens gekennzeichnet, getragen vom Respekt der Gemeinschaft.

Für diese beiden grundlegenden Arten von Wandlungsprozessen haben wir je eine Vorgehensweise entwickelt. Wir arbeiten mit beiden oft und gerne. Den „Übergangsritus mit Höhlendurchquerung“ bieten wir Menschen an, deren Wandlung mehr den Charakter eines Süd/Nord-Übergangs hat. Die Übung „Auf dem Weg“ passt besser für die „Färbung“ eines Nord/Süd-Übergangs.

1.  Übergangsritus mit Höhlendurchquerung

Am Anfang stand das Auffinden eines überaus geeigneten Ortes: Eine Höhle auf der Schwäbischen Alb, in der man nicht umzukehren braucht, also mit unterschiedlichem Ein- und Ausgang.
Der Weg zur Höhle ist schmal und steil und nach Regenfällen schmierig. Der letzte Anstieg  geht über Felsenstufen kurz und steil hoch. Bereits der Höhleneingang ist  etwas eng, an mehreren Stellen wird der Durchgang immer wieder ziemlich schmal. Es ist häufig notwendig, sich seitlich fortzubewegen. Der Boden ist uneben und blockig, ansteigend an ein paar Stellen und wieder abfallend. Die Form der Höhle erzwingt es, sich hin und wieder bückend und das letzte Stück, das sehr eng ist, kriechend bis robbend fortzubewegen. Für die meisten, mit denen wir gearbeitet haben, war es möglich durchzukommen. Die objektiven Gefahren sind gering. Die Orientierung in der Höhle ist unschwierig.
Am Höhlenausgang muss ein Stück abgestiegen und dann eine Eisenleiter hochgeklettert werden. Der Einstieg zur Leiter ist für manchen etwas hoch. Dann führt ein klar erkennbares trockenes und felsiges Bachbett bergan zum bekannten Weg. Danach kann sich jeder am Auto säubern und umziehen und den mitgebrachten Proviant mitnehmen zur Feuerstelle, wo das Feuer bereits brennen und wärmen wird.
Unser Setting ist ausgerichtet an den klassischen Phasen (van Gennep) jedweden Übergangs:

Trennungsphase: Nach der Klärung des eigenen Anliegens geht jeder für sich eine halbe Stunde in die umgebende Natur und lässt sich von einem Symbol  ansprechen, das für das Bisherige, Zu-Ende-Gehende steht. Es wird gespürt, wenn es passt. Nach einer halben Stunde treffen wir uns hier wieder und gehen gemeinsam zum Höhleneingang. Vor der Höhle soll jeder die für ihn passende Art und Weise finden, sich von dem Symbol zu verabschieden und es zurückzulassen. Für dieses kleine Ritual wird den Teilnehmern nahegelegt, dem Symbol und damit dem, was bisher Gültigkeit hatte, Respekt und Achtung zu zollen.
Schwellenphase:Das Alte wird zurückgelassen, das Neue ist noch nicht vorhanden. Der Durchgang durch die Höhle beinhaltet per se die Symbolik der dunklen, schattenreichen Zeit eines Übergangs. Diesen Weg muss jeder alleine gehen, in der Höhle genau so wie in der Lebenswirklichkeit eines Übergangs. Er bringt jeden in Kontakt mit Empfindungen und Erfahrungen, die wichtig für die Markierung des Wendepunktes - den Wandel - sind. Auf was stößt mich die natürliche Gegebenheit der Höhle? Verschlüsselt oft zeigen sich Aspekte, noch nicht gesehene Qualitäten, die unterstützende Kräfte sein können, das Leben anders zu meistern.
Wiederangliederungsphase: Am Ende der Höhle wird jeder im neuen Licht willkommen geheißen und es wird bestätigt, dass er die dunkle Zeit überwunden hat. Auf dem Weg zum Feuerplatz besteht die Möglichkeit, ein neues Symbol für die neue Phase im Leben zu finden. 

Während des gesamten Rituals bis zum Treffen am Feuer ist es gut, wenn jeder still für sich seinem Erleben nachgeht. Am Feuer treffen wir wieder zusammen. Wir stärken uns mit Essen und Trinken. Dann erzählt jeder seine Geschichte, die von allen bestätigt wird (mit einem kräftigen „ho“) und von uns gespiegelt wird.

Das „Spiegeln“ ist insbesondere bei Übergangsriten und anderen naturtherapeutischen Erfahrungsräumen eine Art und Weise, wie in der Natur Erlebtes „ans Licht gehoben“ wird. Die mitgebrachte Story wird so aufgegriffen, dass sich Möglichkeiten zur Fortsetzung des eigenen Erlebens eröffnen. Das Gesagte wird oft zum großen Teil in den Worten des Erzählers wiedergegeben, getragen von tiefem Respekt vor dem Erzähler und seinen Erfahrungen. Dabei werden fast immer Zusammenhänge deutlich, die der Erzähler so klar noch nicht gesehen hat, die aber als etwas Eigenes erlebt werden, als etwas, was ihn schon immer begleitet hat, für das nur noch nicht die passenden Worte oder der passende Rahmen gefunden wurde. Etwas bisher Ungreifbares bekommt, durch die Worte in Sprache gebracht, eine greifbare Gestalt. Durch den neuen Rahmen erhält die Erfahrung eine spezifische Bedeutung.
Die Entwicklungspsychologie Robert Kegans als auch Das Konzept des „Kreises des Selbst“ geben uns in der Naturtherapie die dafür notwendige Orientierung. Wir suchen in den Geschichten nach Schlüsselworten, die die Erzählungen und das Erleben, von dem sie berichten,  den anstehenden Entwicklungsschritten  zuordnen lassen.
Doch noch wichtiger als diese Zuordnung sind die Haltung, in der dem Erzähler und seiner Geschichte begegnet wird, und der Rahmen, in dem erzählt und gehört wird. Bill Plotkin beschreibt dies in wunderbaren Worten.

Vom Erzählen einer Story, vom empfindungsfähigen Zuhören und vom Spiegeln (nach Bill Plotkin, Soulcraft)

Dem Erzählen der Story des eigenen Erlebens sollte nichts Überhöhtes anhaften, es sollte direkt sein, gerade so, wie es geschah. Erzähle einfach von deinem Erleben – von deinem Kummer, von deinen Freudenausbrüchen, von deinem Umherschweifen und von deinen Begegnungen mit deiner Seele und mit der Natur, der belebten und der unbelebten. Deine Story sollte deine tiefsten Wahrheiten zum Ausdruck bringen, ohne Rücksicht auf oberflächliche „Fakten“.
Es ist allerdings wichtig, dass du Zuhörer hast, die fähig und bereit sind mit den Ohren ihrer Herzen zu hören.
Am besten geschieht das Erzählen in einer Gruppe von Menschen, die sich darauf verstehen.
So wie es eine Kunst des Erzählens einer Story gibt, so gibt es nämlich auch die Kunst, eine zu hören. Spiegeln heißt, eine Story zu empfangen, zu umarmen und zu ehren als den Bericht von einer Reise in die innere und in die äußere Wildnis.
Im Spiegeln wird nicht projiziert oder interpretiert, sondern es wird getragen von der Freude an der Story, die zugleich Geschenk und Beschenktheit dessen ist, der sie erzählt. Hilf als Spiegel dem Erzähler, die Juwelen der Story zu gewinnen und zu ernten, sowohl die glänzenden wie auch die dunklen. Sei ein so klarer Spiegel wie möglich. So kann der Erzähler die Fülle und die Schönheit seiner Story umarmen und er wird fähig, sie als einen Mythos zu empfinden, der den Weg zu einem spirituellen Abenteuer neu eröffnet. Hilf dem Erzähler, die Barrieren zu durchbrechen, die ihn hindern, von der eigenen Story fasziniert zu sein. Lerne Zeuge zu sein, halte die Ergriffenheit und den Kummer der Story aus, ohne zurückzuschrecken und ohne auszuweichen. Höre zu mit Liebe und mit Mitgefühl.
Unsere Stories zu erzählen gehört zu den besonders heilenden und Stärke gebenden Dingen, die wir im Leben tun können. Tatsächlich unsere Stories zu erzählen. Und eines der größten Geschenke, die wir geben können, ist es, diese Stories tatsächlich zu hören, zu umarmen, ihre Resonanz in uns zu spüren bis tief in die Mitte des Körpers, wie Stimmgabeln zu sein, und diese Resonanz mit dem Erzähler der Story zu teilen.

Beispielhaft seien im Folgenden Auszüge aus einer Story wiedergegeben, die ein 20-jähriger junger Mann von seiner übergangsrituellen Höhlendurchquerung mitgebracht hat. Wir geben sie in tabellarischer Form wieder, die parallel aufzeigt, wie wir als Spiegel auf die einzelnen Passagen seiner Erzählung reagiert haben. Tatsächlich hat er natürlich seine Geschichte durchgehend erzählt und wir haben, einander abwechselnd, anschließend gespiegelt. Zur Erinnerung: In der Begrifflichkeit von Kegan geht es um den Übergang vom zwischenmenschlichen zum institutionellen Gleichgewicht, im Modell des „Kreises des Selbst“ um den Durchgang durch den Westen. Der Spiegel greift das Gesagte im Licht der Charakteristika dieses Übergangs auf und markiert damit die Richtung des erlebten Prozesses.

Mitgebrachte Story:

Unser Spiegel:

Aus der Eröffnungssitzung mit Formulierung des Anliegens für ein Übergangsritual.
Ich mache zurzeit zusammen mit … (anderer Teilnehmer) meinen Zivildienst. Auf mich kommt Arbeit zu. Demnächst beginnen die Einschreibfristen an den Unis und ich sollte mich bewerben. Oder die Unis sein lassen. Aber was sonst? Alles, was es da jetzt zu tun gibt, mache ich nicht gerne. Ich hänge abends lieber rum und bin dann mit mir sehr unzufrieden. Mir fehlt einfach die Tatkraft.

Der Gebrauch der Gegenwart legt nahe: so wie es im Übergangsritual war, so ist es sonst auch.
Du spürst, wie ein neuer Abschnitt Deines Lebens unaufhaltsam auf dich zukommt. Es bedeutet Arbeit, zusätzliche Arbeit zu dem, was Du beim Zivildienst sowieso tun musst. Abendliches Rumhängen verdeckt irgendwie das, was eigentlich ansteht: Tatkraft, verbunden vermutlich mit der Kraft, für Dich wirklich wichtige Entscheidungen zu treffen.

Bericht von der halbstündigen Wanderung mit dem Auftrag, sich von einem Symbol finden zu lassen, das für das stehen soll, von dem man sich  trennen will.
Da ich mich hier ja nicht auskenne, ging ich zunächst einfach hinter den anderen her. Doch bald wusste ich nicht mehr, hinter wem ich hergehen sollte, weil die anderen immer mehr sich vereinzelten. Da blieb ich erst einmal stehen und setzte mich dann hin. Ich kam mir ein wenig allein gelassen vor. Doch dann fiel mein Blick auf einen steil nach unten führenden Pfad und plötzlich war da eine richtige Lust, zu entdecken, wo dieser hinführt. Da ging es dann Schlag auf Schlag. Einmal reizte es mich, kurz an einem Felsen herumzuklettern, dann einer steilen Wasserrinne wieder nach oben zu folgen. Das tat ich auch und kam in der Nähe meines Sitzplatzes wieder an. Ein Stein, mein Symbol,  lag ganz oben an diesem Platz.

Zum Folgenden vergleiche insbesondere Kegans Gedanken: Am Ende dieses Übergangs gehört der Mensch sich selbst, er ist nicht mehr „verschmolzen“  mit den anderen, er hat Identität.
Du spürst, wie die, die zunächst vor dir und mit dir laufen, sich mehr und mehr vereinzeln, ihre eigenen Wege gehen. Das setzt dich zunächst richtiggehend auf deinen Hintern: Jeder geht woanders hin und lässt dich alleine. Aber Du bemerkst, dass das, was die anderen antreibt, auch in dir lebt: Entdeckungs-Lust, ein steiler Pfad reizt dich und du gehst auf sein Angebot ein. Er führt dich zu einem Felsen und auch dessen Angebot nimmst du an, ebenso das der Wasserrinne. Das Leben pulsiert. Und wie Du wieder an dem Platz vorbeikommst, an dem du vorher noch sitzen bliebst, siehst du den Stein, das für dich passende Symbol für das, was in deinem Leben zu Ende geht.

Bericht vom Durchgang allein durch die Höhle.
Beim gemeinsamen Abstieg zum Höhleneingang war diese Lust gleich wieder da. Ich war richtig gut drauf. Ein absichtliches Rutschen auf dem schlammigen Weg, eine Flanke über den umgestürzten Baum. Doch vor der Höhle wurde es wieder anders. Wie gefragt wurde, in welcher Reihenfolge wir gehen wollen, habe ich mir kurz überlegt, ob ich gleich als erster gehen soll, dann hatte sich aber schon ein anderer gemeldet. So sagte ich als letzter, weil mir das auch irgendwie besonders erschien. Wie aber nun alle anderen nach der Reihe verschwanden, war es wieder wie oben am Platz. Und als ich schließlich als letzter an die Reihe kam, war ich richtig wütend auf das alles hier und pfefferte meinen Stein ins Gebüsch.
Ich wusste ja, dass es in der Höhle eng wird, aber so eng, das habe ich nicht gedacht, es wurde mir zu eng, dann zu nass und zu dreckig. Ich war mir unsicher, ob ich den richtigen Weg ging, obwohl es ja noch gar keine Abzweigung gegeben hatte. Ich wollte mich aufholen lassen, aber hinter mir war ja nur noch Rita (Leiterin). Mich so erwischen lassen, das wäre das Letzte. Also vorwärts, den vor mir aufholen. Ich hastete richtig vorwärts. Ich rutschte ständig aus, stieß mich an, nur weiter. Dann hörte ich Stimmen. Aha! Die anderen haben sich getroffen. Weiter!
Es wurde ganz eng, ich musste auf den Bauch .. und dann wurde es hell. Ich war draußen. Die Stimmen … Wolfgang (Leiter) hatte den vor mir am Licht begrüßt. Ich war durch, ganz allein. Und wen geht es schon was an, wie das war.


Gemeinsam Absteigen und sich den damit verbundenen Anforderungen lustvoll, fast übermütig zu stellen, versetzt dich in eine tolle Stimmung. Hier gibt es wieder dieses alte vertraute Gemeinsame und du bemerkst, wie du diese Phase deines Lebens genutzt hast: wie du spielerisch leicht dein Gleichgewicht halten kannst und zu Sprüngen und Flanken imstande bist. Du bist für Neues gut gerüstet und strebst sogar dabei nach einer besonderen Rolle: du übernimmst die Verantwortung dessen, der als Letzter geht. Zugleich bemerkst du allerdings jetzt das Neue. Wieder geht jeder und du hast noch einmal das Gefühl des Zurückbleibens. Du wirst dieses Mal sogar wütend auf alles, auf die Zumutungen und auf dich selbst und pfefferst den Stein, dein Symbol für das, was zu Ende geht, ins Gebüsch.
Doch die Zumutungen sind noch nicht vorbei: es wird eng, es wird nass, es wird dreckig, du wirst unsicher. Aufgeben aber kommt nicht in Frage. Du nutzt deine Wut und lässt dich von ihr vorwärts treiben. Du wirst sozusagen nicht aus dem Paradies deiner Kindheit vertrieben, sondern du verlässt es, weil es notwendig ist. Die Stimmen, diese vermeintlichen Regelbrüche der anderen, werden zu noch mehr Ansporn. Dann geht es nur noch auf dem Bauch … und dann bist du draußen.
Und schlagartig fällt die rückwärts gerichtete Sehnsucht nach dem, was zu Ende geht, ab. Es war zum Teil schauderlich, es liegen harte Kämpfe hinter dir, mit den Zumutungen und mit dir selbst. Doch das ist nun Vergangenheit.

Bericht vom Rückweg.
Den Rückweg konnte ich dann richtig genießen. Es war in mir nun alles ruhig. Da war und ist immer noch, auch jetzt noch am Feuer, dieses positive Gefühl, aber anders. Es ist weniger diese Entdeckerlust vom Anfang. Sondern hier spricht der erfahrene Mann, der es hinter sich hat. Die Symbolsuche habe ich dabei ganz vergessen.


Nun sieht die Welt anders aus. Sie ist wieder zum Genießen. Aber es ist ein neuer Genuss. Es ist nicht mehr der Genuss des Kindes, das mal etwas ausprobiert, aber nur um wieder ins Vertraute zurückzukehren. Nun ist es der Genuss, der der inneren Ruhe des Mannes entspringt, der seine große Herausforderung bestanden hat und dessen Kämpfe darum der Vergangenheit angehören. Für soviel Gegenwart braucht man kein Symbol zu finden.

 2.  „Auf dem Weg“ – eine übergangsrituelle Übung für Menschen in Wandlungsprozessen

Sich neu orientieren, Altes abstreifen,  hat im Erleben nicht immer den Charakter brennender Herausforderung.  Gerade in der Lebensmitte bereitet sich der Wandel eher allmählich vor. Der emotionalen Färbung dieses Übergangs entsprechen Sätze wie: „Das war es noch nicht“,  „Da ist noch etwas zu ordnen“, „Du bist noch nicht fertig“.
Auf einem Workshop von Steven Foster und Meredith Little habe ich selber dieses „Du bist noch nicht fertig“ in einem wunderschönen Erleben in der Natur geschenkt bekommen: Ich geriet auf meinem Weg entlang eines Baches im Auwald der Donau an ein Altwasser, dem Ursprung dieses Bach. Das Bachbett erweiterte sich immer mehr und die Fließgeschwindigkeit des Wassers nahm immer mehr ab, bis man sehr genau hinsehen musste, um überhaupt noch eine Bewegung erkennen zu können. Es war ein düsterer Ort, mit absterbenden Bäumen, die im Wasser standen. Meine Aufgabe bestand darin, meinen Lebensweg zu gehen, und dieser Ort war für mich der Inbegriff der Verlangsamung im Alter und des Naherückens des Todes. Ich spürte die Erschütterung und war bereit, das so anzunehmen. Unwillkürlich drehte ich mich noch einmal um, ich wollte noch einmal zurückschauen auf den langen Weg, den ich gegangen bin. Und da lag, wenige Meter vor mir, mitten auf dem Weg, ein großes, in meinem Erleben sogar riesengroßes grünes Blatt. Das wirkte auf mich wie ein Wegweiser in eine neue Ferne: „Nein! Das war nur eine Vorschau! Du bist noch nicht fertig. Du bist noch auf dem Weg, und zwar noch lange!“

So fasst uns das, was wir nicht fassen konnten, voller Erscheinung, aus der Ferne an ....“ (Rainer Maria Rilke)

Die Einstimmung zu unserer Übung „Auf dem Weg“ geschieht mit folgenden Worten: „Du hast dich entschieden, dich für längere Zeit der Natur anzuvertrauen. Und die Natur mit ihren Wegen und Plätzen wird dir ein Angebot machen. Du wirst dich selber wiederfinden in ihr. Du wirst deinen Weg finden und nur das ist wichtig: dein Weg. Wie bequem oder anstrengend, wie interessant oder langweilig, das spielt für dich keine Rolle mehr. Und ebenso wird es mit den Plätzen sein, die dir zur Rast oder als Nachtlager dienen. Sie mögen heimelig oder unheimlich sein, bequem oder unbequem, das spielt keine Rolle mehr für dich.
Wichtig ist nur: es sind deine Plätze. Und so werden deine Plätze dich zu neuen Wegen aussenden und deine Wege dich zu neuen Plätzen führen. Du gibst dich dem Geschehen anheim. Darin liegt der Sinn und dein Sinn wird dich finden.“
Die Übung „Auf dem Weg“ kann relativ kurz angelegt sein, nur über wenige Stunden, und sie kann lang sein: mehrere Tage bis zu einer Woche. Dies hängt sicher in erster Linie von der Bedeutung ab, die der Übung für den Wandlungsprozess beigemessen wird. Entsprechend ist natürlich die Zeit der Vorbereitung und Einstimmung, ebenso die Zeit der Nacharbeit wesentlich intensiver, wenn ein längerer Zeitraum gewählt wird.
Die Bedeutung des Erlebens kann wesentlich verstärkt werden, indem die Natur am Anfang über eine Schwelle betreten und am Ende wieder verlassen wird, d.h. die Erfahrung rituell „gerahmt“ wird. „Über die Schwelle gehen“ bedeutet, die Natur bewusst als einen Symbolraum zu betreten, in dem das äußere Geschehen in der Natur als Spiegel des seelischen Geschehens verstanden wird und umgekehrt. Dies kann bei mehrtägigem Vorhaben begleitet werden durch Fasten. Das Setting nähert sich dann einerseits dem einer Fastenwanderung. Dadurch kommt es in der Regel zu einer wohltuenden Verlangsamung und einer besonders auf die Nähe ausgerichteten Wahrnehmung. Und andererseits ist die Vorgehensweise, je länger der Erfahrungsraum angesetzt ist, um so ähnlicher dem großen von Foster und Little entwickelten Übergangsritus „Vision Quest“ mit seinen zahlreichen Riten, Geschichten und Gesängen. Das Fehlen der Mahlzeiten „entregelt“ den Tag, die Beschäftigung mit sich selbst bleibt im Vordergrund und es eröffnet sich insbesondere die spirituelle Dimension des Lebens, sei es auf dem Boden bestehender Religiosität oder auch ohne.

Nun auch hier zu einer exemplarischen Story: Auszüge aus der Geschichte einer Frau Ende vierzig, die einen Tag lang ihrer Wege ging und ihre Plätze fand. In der Begrifflichkeit von Kegan geht es um den Übergang vom institutionellen zum überindividuellen Gleichgewicht, im Modell des „Kreises des Selbst“ um den Durchgang durch den Osten. Die Aufgabe des Spiegels ist es, das Gesagte im Licht der Charakteristika dieses Übergangs aufzugreifen und damit die Richtung des erlebten Prozesses zu verdeutlichen. Was wir oben zum Thema Spiegeln ausführlich dargestellt haben, gilt auch hier.

Mitgebrachte Story:

Unser Spiegel:

Am Morgen beim Aufstehen.
Ich hatte mir vorgenommen zum Sonnenaufgang aufzubrechen, aber ich konnte mich nicht aufraffen und schlief eine Stunde weiter. Dann läutete der Wecker zum zweiten Mal. Soll ich nun? Will ich? Ist es die Pflicht der getroffenen Vereinbarung? Oder Antrieb? Ich entschied mich: Ich gehe, weil es mir entspricht.


Der Aufbruch aus dem Angenehmen oder dem Vertrauten hat oft nichts Drängendes an sich. Zeit ist noch immer genügend da. Alleine einer Pflicht wegen machst du viel. Darum geht es hier nicht. Vielmehr muss es passen, es muss dir entsprechen.
Aber wenn es dir entspricht, dann machst du dich auf.

Die Anfahrt
Ich fuhr mit dem Auto durch die tief verschneite Landschaft in Richtung zu einer bestimmten vertrauten Stelle, von der aus ich schon oft zum Pilze Suchen gegangen bin.
Im Hinfahren lud mich ein anderer, ein für mich neuer Weg ein. Ich fuhr vorbei, sagte mir aber, dass ich ja jederzeit umkehren könnte. Die Möglichkeit dieses Weges blieb haften. Und schließlich fuhr ich zurück und sah ihn mir einige Zeit aus dem Auto an. Da war eine Spur im Schnee, der könnte ich folgen. Ich stieg aus und ging.


Das Vertraute scheint oft eine gute Basis für einen Aufbruch zu sein. So wie der Ort, von dem aus du oft zum Pilze Suchen gehst. Manchmal ist das auch so, aber genauso oft lädt einen plötzlich etwas Neues ein. Meist muss man dieser Einladung gar nicht spontan folgen, aber als Einladung erkennen muss man sie. Und du kommst auf sie zurück und unterziehst sie vom Auto aus einer gründlichen Prüfung. Und mit etwas innerer Vorsicht, keineswegs im Hurra-Stil, lässt du dich auf die Möglichkeit des neuen Weges ein und folgst einer Spur.

Die erste Viertelstunde
…. Ich war gut behütet, warm angezogen, hatte an meine Sicherheit gedacht und das Handy dabei, …. aber unten! Meine Schuhe waren für den tiefen Schnee nicht das Richtige. Ich entfernte aus ihnen zweimal den Schnee. Gedanken kamen: Soll ich das Ganze nicht bleiben lassen? Doch ich ging weiter, indem ich mir sagte, dass ich ja jederzeit umkehren könnte.


Du hast recht gut für dich gesorgt, aber irgendetwas kommt oft so, dass es einen unvorbereitet trifft. Diesmal ist’s der tiefe Schnee, zu dem deine Schuhwahl gar nicht passt. Der Schnee in den Schuhen ist dir unangenehm und du versuchst ihn mit offenbar wenig Erfolg herauszuholen. Wieder kommen die Gedanken des Zweifels und du versicherst dich noch mal deiner Möglichkeit zum Umkehren.

Im Verlauf
…. Irgendwann, meine Füße waren jetzt nass, aber eigentlich nicht kalt, wurde mir der Weg zu langweilig. Ich bog ab von dieser Spur und ging hinein in den weglosen wilden Wald. Da war zu meiner Überraschung weniger Schnee als auf dem Weg. Ich war mit meiner Entscheidung richtig zufrieden, nasse Füße hin oder her.


Die nassen Füße kannst du nun gut und mit etwas Humor hinnehmen, denn so richtig kalt werden sie beim Gehen nicht. Und dein Weg wird nun wichtiger. Es ist Zeit abzubiegen. Der alte Weg ist nun zu langweilig, du gehst hinein ins Ungespurte und Wilde. Der wilde Wald nimmt dich auf, indem er den Schnee von deinem Weg abhält. Du freust dich über seine Einladung und deine richtige Entscheidung.

Platzwahl
…. Eine Lichtung lud mich ein zu verweilen: Der Platz war von Tannen umgeben, aber an einer Stelle konnte ich raussehen. Während ich etwas verweilte blieb mein Blick immer an dieser lichten Stelle haften. Und schließlich ging ich auf diese zu. Doch plötzlich war da ein kleiner Bach. Ich konnte unter dem Schnee nicht recht abschätzen, ob ich ans andere Ufer springen kann und wie der Boden dort ist. Sollte ich zurück gehen? Nein! Jetzt nicht mehr. Ich sprang, der Sprung gelang. Und dann im Zurückblicken merkte ich so richtig, dass dieser Platz meiner war: ein Stück versteckt, mit Blick nach draußen, und: nicht abgeschnitten, denn der Bach verbaute mir meinen Weiterweg nicht.


Die Lichtung spricht eine weitere Einladung aus. Ihr Charakter ist genau das, was du brauchst. Ein sicherer, etwas versteckter Ort, aber mit Blick nach draußen. Und dieser Ausblick, dieser Bezug zur Welt jenseits deines Platzes, zieht deine Augen regelrecht an und lässt sie gar nicht mehr los. Bis du dich in diese Richtung aufmachst. Ein Bach prüft noch ein letztes Mal, wie stark deine Zweifel sind und ob du nicht doch lieber umkehren willst. Und es zeigt sich, die Zweifel sind auf dem Rückzug, nicht du. Mut wird frei, ebenso Spannkraft für einen Sprung mit Risiko. Und der Sprung gelingt. Der Bach konnte dich auf deinem neuen Weg in die Welt nicht aufhalten.

Rückkehr
…. Ich hatte den Wald schon beinahe verlassen, da geriet ich an einen alten morschen umgefallenen Stamm. Ich schob den Schnee zur Seite und sah, dass er vermodert und angefressen war. Doch dann bemerkte ich, wie facettenreich und wie schön er war. Der Verfall war gar nicht mehr wichtig. Im Weitergehen wurde mir immer mehr die winterliche Schönheit bewusst: alte mit Schnee bepuderte Blüten und diese grenzenlose friedliche Stille, ich hörte manchmal wirklich keinen Laut. Langsam freute ich mich dann auf zu Hause. Wenn ich vom Auto aus anrufe, dampft dann dort, wenn ich ankomme, sicher schon der Tee.


Der neue Weg belohnt dich mit einem morschen, umgefallenen Stamm, vermodert und angefressen. Doch wenn du erst mal den Schnee zur Seite räumst, bemerkst du, dass es Wichtigeres gibt als Angefressensein: Der Facettenreichtum und die Schönheit des Alters, für das der dazugehörende Verfall zur Nebensache wird. Auch die bepuderten alten Blüten zeigen dir das.
Und schließlich tritt in dein Bewusstsein ein, was vermutlich die ganze Zeit schon wie eine unerkannte Einladung präsent war: Stille und tiefer Friede auf Deinem neuen Weg. Ein Weg, den zu gehen möglich ist, auch weil du begleitet wirst von denen, die zu Hause beim Tee auf dich warten.

Zum guten Schluss

Zum Abschluss der Rundenarbeit mit den Geschichten und dem Spiegeln der Geschichten lesen wir gerne das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse. Besonders der Schlussteil hat es uns angetan und bringt für uns den Wesensgehalt eines Übergangs auf den Punkt:

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden .
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

Literatur:

Steven Foster u. Meredith Little, Vision Quest, Braunschweig 1991
Robert Kegan, Die Entwicklungsstufen des Selbst, München 1994
Bill Plotkin, Soulcraft, Novato (California) 2003
Arnold van Gennep, Übergangsriten, Franfurt a. M / New York 1999

Autoren:
Rita Arzberger-Schmidtner und Wolfgang Schmidtner
Weidachweg 120
89081 Ulm
e-mail: naturtherapie.schmidtner@web.de
www.naturtherapie-schmidtner.de